ENCUENTROS TEXTILES / Textile Encounters (14.11.-21.12.2024) von Fridolin Göbel | dezember 2024
Zwischen Erinnerung und Utopie
Zwei beeindruckende Textilarbeiten dominieren den zentralen Raum der Galerie hinterland, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten. An der linken Wand hängt eine bunte, aus unterschiedlichsten Materialien zusammengesetzte Tapisserie, während gegenüber eine fast skulptural anmutende Struktur aus dünnem rotem Stoff raumgreifend von der Decke hängt. Unter dem zunächst etwas generisch anmutenden Titel encuentros textiles/textile encounters werden hier die Arbeiten zweier chilenischer Künstlerinnen, Dani Negri und Constanza Hermosilla, präsentiert. Die Austellung ist von der ebenfalls aus Chile stammenden Galeria Metropolitana kuratiert.
Wo und wie finden hier Begegnungen statt?
Der scheinbar so schlicht gestaltete Raum gibt nur nach und nach seine doch voraussetzungsreiche Konzeption preis. Das rote Stoffgebilde wird durch ein Video erläutert, dass seine Funktion, seinen performativen Charakter verdeutlicht. An den acht Enden der Struktur sind Laschen angebracht, die sich Performer*innen wie Rucksäcke umschnallen können. Positioniert über einem Lüftungsschacht in einem Park, wird das leichte Textil aufgeblasen und bildet eine Art schwebendes Gewölbe, in dem die Performer*innen als Stützen fungieren. Andere Arbeiten der Architektin und Künstlerin Constanza Hermosilla, zwei sind als Fotografien ebenfalls in der Ausstellung zu sehen, zeigen ähnliche Strukturen, beide direkt an Lüftungsschächten eines urbanen, von Hochhäusern umgebenen Stadtraums platziert. Abluft von Klimaanlagen und öffentlichen Verkehrsmitteln wird hier genutzt um Gebilde entstehen zu lassen, die aufgrund ihrer Leichtigkeit, organischen Form und hervorstechenden Farbgebung (ebenfalls rot) in der städtischen Betonwüste fast utopisch anmuten. Feministische Überlegungen und die Reflexion über Begegnungen, Interaktion und das generelle Zusammenleben in urbanen Räumen bilden die Basis für diese Installationen, so der Pressetext der Galerie. Und tatsächlich wirken die Strukturen, vor allem auf den Fotografien, wie ein widerständiger Akt gegen die zunehmend als bedrohlich wahrgenommene Welt des Finanzkapitals mit ihren phallischen Türmen aus Beton, Stahl und Glas. Besonders die in der Ausstellung gezeigte Arbeit fordert gängige architekturtheoretische Narrative heraus. So werden architektonische Grundbegriffe wie die Beziehung von Tragen und Lasten in Beziehung zu gesellschaftlichen Fragen umgedeutet und neu kontextualisiert. Nicht der Planungsgedanke eines genialischen, meist männlichen Architekten, sondern die Gemeinschaft trägt hier die gesellschaftsbildenden architektonischen Strukturen.
Auch Dani Negri setzt sich mit Formen von Gemeinschaft auseinander, wirft dafür allerdings einen Blick in die Vergangenheit. Die bunte, etwas chaotische Tapisserie verweist in einer gestickten Inschrift an zwei Seiten der rahmenden Borte darauf:
ESTE TAPIZ ES UNA CREACION COLECTIVA REALIZADA POR MAS DE 80 PERSONAS EN AGOSTO DEL 2016 EN HOMENAJE AL TRABAJO COLECTIVO DE LA UNCTAD III 1972
Auch dem des Spanischen nicht mächtigen Autors dieser Kritik wird rasch klar, dass sich una creacion colectiva neben dem Herstellungsprozess der montageartigen Tapisserie auch auf eine politische Dimension des Werkes bezieht. Wer Genaueres erfahren möchte, findet im Hinterzimmer der Galerie ein die Arbeit Dani Negris ergänzendes Archiv, bestehend aus drei Aktenordnern mit Fotografien, alten Zeitungsartikeln, Illustrationen und vielem anderem. Dort wird ein dichtes Geflecht aus historischen Bezügen gewoben, dass sich um die UNCTAD III, die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung entspinnt. 1972 fand diese Konferenz in Santiago de Chile während der Regierungszeit Salvador Allendes statt und wurde durch ein umfangreiches künstlerisches Programm unterstützt. Eine der dafür hergestellten Werke, eine Tapisserie der Bordadoras de Isla Negra, einer Gruppe von Autodidaktinnen, entspinnt den roten Faden, der sich durch die gesamte Arbeit von Dani Negri zieht. Diese Tapisserie, aktuell bei der Biennale in Venedig zu sehen, wurde in einem ebenfalls kollektiven Prozess erzeugt und scheint den optimistisch-revolutionären Geist der ersten Regierungsjahre Allendes zu verkörpern. Dargestellt ist ein Querschnitt durch die chilenische Landschaft, vom Meer bis zu den Anden, der in bunten Farben alle Schichten der Bevölkerung darstellt. Während die Landschaft in einer Art Aufsicht gezeigt wird, sind die darin befindlichen Menschen, Tiere und Gegenstände fast ausschließlich von der Seite dargestellt, die Perspektive wirkt verzerrt, die Figuren gegen die Bildfläche geklappt, dadurch aber umso klarer zu identifizieren.
Ganz anders die ebenfalls im Kollektiv hergestellte Tapisserie von Dani Negri. Zwar ist auch dieses Werk in mehrere Abschnitte geteilt, doch ein Bildraum oder gar eine Landschaft ist nicht zu erkennen. Figurative und abstrakte Motive sind über die gesamte Fläche verteilt und nicht direkt auf die Unterlage gestickt, sondern auf kleineren Textilien, die wiederum auf die große Tapisserie montiert sind. Zwar weisen einige Motive zumindest emblematisch auf ihr Vorbild hin, wie etwa die Darstellung eines Kondors in der linken oberen Ecke, doch im Vergleich zum Vorbild, in dem der Kondor majestätisch die Anden bekrönt, gleitet der ikonische Vogel hier nur durch eine chaotische Stofflandschaft.
Die in ihrer technischen und ikonografischen Komplexität beeindruckende Arbeit scheint in ihrer politischen Dimension zunächst fast ernüchternd. Die auch von der europäischen Linken idealisierte Phase demokratisch-sozialistischer Revolution während Allendes Regierungszeit blitzt als eine vergangene Utopie zwischen den Fäden des Gewebes immer wieder auf und ist doch verloren. Gleichzeitig lässt sich in der chaotischen, multiperspektivischen Landschaft der Tapisserie Dani Negris aber eben auch ein Versuch erahnen, die Herausforderungen gemeinschaftlichen Lebens und künstlerischen Arbeitens neu zu denken. Nicht die Vergangenheit wird idealisiert, sondern der Versuch unternommen an gegenwärtigen Ansätzen von Kollektivität zu arbeiten.
An diesem Punkt treffen sich die beiden so unterschiedlichen Arbeiten der Künstlerinnen. Und gerade der Unterschied zwischen der im Kollektiv hergestellten Tapisserie und der erst durch das Publikum aktivierten Öffentlichkeit in den luftigen Architekturen Constanza Hermosillas ermöglichen den Besucher*innen über Gemeinschaft in ihrer ganzen Komplexität nachzudenken.
Constanza Hermosilla, Arquitectura Blanda (2024), Ausstellungsansicht, Fotocredist: Fridolin Göbl
Dani Negri, Homenaje al trabajo colectivo de la UNCTAD III, 1972 (2016) , Ausstellungsansicht