(24.10.2024-28.12.2024 ) von Svea Grasberger | februar 2025
Subjekt • Prädikat • Objekt. Diese grundlegenden Elemente genügen, um die einfachsten Sätze der deutschen Sprache zu formen. Doch sie bilden nicht nur die Basis alltäglicher Kommunikation, sondern auch das Fundament des Rechtssystems. Wie dieses in die Prozesse innerhalb einer Gesellschaft eingreift und welche Rolle die Sprache bei dessen Entstehung und Wirkung spielt, ist das zentrale Thema bei der in der Galerie Lombardi—Kargl präsentierten Ausstellung some notes… (barely written out) von Thomas Locher.
Das raumgreifende Metallgestell, das die Ausstellung gliedert und viele ihrer Werke trägt, ist dabei mehr als nur ein technisches Hilfsmittel. Es teilt den Raum in verschiedene Bereiche und fungiert als Leitlinie, die die Besucher*innen subtil durch die Galerie führt. Und obwohl es möglich wäre, durch das Gerüst hindurchzusteigen, verzichten die meisten Menschen auf diese Möglichkeit, da dieses Unterfangen kontraintuitive Formen des Gehens erfordern würde. Diese diskrete Barriere ruft Assoziationen zum Gesetz hervor, das die Menschheit durch ihr Leben lenkt: Es ist allgegenwärtig, strukturiert das Handeln und bleibt für viele eine abstrakte Kraft, die das Verhalten unbewusst steuert. Das Gestell in dieser Ausstellung verweist auf diese vielschichtige Beziehung zwischen Individuen und den Regeln, die sie umgeben – eine Grenze, die führt und gleichzeitig die Handlungsfreiheit bestimmt.
Durchbrochen wird die klare räumliche Struktur der Ausstellung durch scheinbar lose über den Metallstangen hängenden Sprachfetzen. Das thematisch auf die 1980er-Jahre zurückzuführende Werk Subjektivierung zeigt Banner unterschiedlichster Länge und Breite mit Sprachfragmenten, wie beispielsweise „Prädikat“ oder „Attribut“ in verschiedenen Farben. Diese syntaktischen Kategorien entfalten in ihrer bloßen Präsenz eine paradoxe Wahrheit: Sie sagen einerseits nichts Bestimmtes und doch tragen sie das Potenzial, alles auszudrücken, was in der deutschen Sprache möglich ist. Damit stellt der Künstler das System der Sprache dem Rechtssystem gegenüber und verweist darauf, dass Grammatik als Aufruf zum korrekten Sprechen dem Rechtssystem als Aufruf zum korrekten Handeln gleichkommt. Denn so wie sich der Mensch dem Sprachsystem unterordnet, um kommunizieren zu können, ordnet er sich dem Rechtssystem unter, um in der Gesellschaft existieren zu können. Zumindest scheint es Locher mit dieser Ausstellung zunächst um eine solche Analogie zwischen Sprache und Recht zu gehen, da beide Systeme das menschliche Handeln unbewusst strukturieren und beeinflussen.
Ergänzt wird diese Raumstruktur von mehreren großformatigen Werken an den Galeriewänden, die auf den historischen Hintergrund des heutigen Rechtssystems verweisen und unter dem Titel The Indeterminate Norm and the Human Community (2023) zusammengefasst sind. Die zugrundeliegenden, aber in Grautönen gehaltenen Werke aus der europäischen Kunstgeschichte verbindet ihre symbolische Bedeutung: die universelle Notwendigkeit von Gerechtigkeit, die Verantwortung der Autoritäten und die Rolle der Gesellschaft. Drei zentrale Themen, drei großformatige Werke und eine Fülle von Gedankengängen des Künstlers, die sich anhand bunter Notizen auf quadratischen Acrylplatten auf den grauen Reproduktionen entfalten. Locher fordert dazu auf, festgefahrene Begriffe wie Recht zu hinterfragen und das Wort Gesellschaft in seine semantischen Einzelteile zu zerlegen. Indem er die einzelnen Bedeutungselemente eines Wortes aufzeigt, destabilisiert er die vermeintliche Klarheit historischer Narrative und fordert dazu auf, bestehende Normen nicht als unverrückbare Wahrheit zu akzeptieren, sondern als wandelbare Konstrukte zu verstehen.
Mit der letzten Werkgruppe, welche die UN-Kinderrechtskonventionen thematisiert, gewinnt diese Herangehensweise noch eine weitere Dimension. In Convention on the Rights of the Child (2024), der jüngsten Arbeit der Ausstellung, entblößt der Künstler die Sprache der Rechtstexte, indem er einzelne Artikel isoliert, auf transparente Acrylplatten druckt und diese ungeschützt im Raum platziert. Diese Präsentation erlaubt den Besucher*innen, das Rechtssystem buchstäblich zu durchblicken, ohne jedoch den Anspruch zu erheben, es vollständig zu verstehen. Stattdessen werden sie eingeladen, den Konventionen mit Lochers Fragen wie „What is meant by that?“ oder „How should it be understood?“ zu begegnen. Denn rund um den schwarzen, formellen Rechtstext fügen sich in lebendigen Farben die Gedanken des Künstlers ein – zarte, fast skizzenhafte Notizen, die als Gegenpol zu der trockenen Sprache der Gesetzestexte wirken. Doch diese Überlegungen sind, wie der Ausstellungstitel some notes… (barely written out) andeutet, keine endgültigen Antworten, sondern Ansätze, die auf weitere Fragestellungen hinweisen. So fordert der Werkzyklus dazu auf, an seine Gedankengänge anzuschließen und weitere Interpretationsspielräume zu eröffnen. Denn wo in der Vergangenheit Könige und Kaiser hinter der Rechtsprechung standen und ihre Macht als Garant für Gerechtigkeit symbolisierten, tritt in diesem Werk der Mensch selbst in den Vordergrund.
Das offene Metallgestell, das die Werke trägt, ermöglicht eine Durchsicht, die eine Wand nicht zulassen würde, und verweist damit auf den modernen Anspruch auf Transparenz und Teilhabe. Die Besucher*innen, die hinter den Acrylplatten sichtbar werden, verschmelzen mit der Kunst und werden zum lebendigen Hintergrund – ein Sinnbild dafür, dass jede*r Einzelne der heutigen Gesellschaft einen Teil der Verantwortung für das Rechtssystem trägt. Diese Einbeziehung des Publikums verdeutlicht, dass Gerechtigkeit kein statisches Konzept ist, sondern ein transformierbarer Prozess, der von der Gesellschaft gestaltet wird. Eine Idee, die sich auch in der Konstruktion der Werke widerspiegelt: Die Buchstaben schweben in einem hellen Holzrahmen, der sie zusammenhält und gleichzeitig sichtbar macht. Ähnlich wird auch das Rechtssystem von der Gesellschaft getragen, die es einst erschaffen hat – ein fragiles und doch kraftvolles Gefüge, das sich immer wieder neu definieren muss.
Die Werke Thomas Lochers eröffnen einen Dialog über das Zusammenspiel von Sprache, Recht und Gesellschaft. Er entlarvt die scheinbare Stabilität von Gesetzen als einen dynamischen Prozess, der ständige Auseinandersetzung und Reflexion verlangt. In einer Zeit, in der Recht und Ordnung oft als unveränderbare und zugleich fragwürdige Größe wahrgenommen werden, lädt die Ausstellung ein, die abgestumpfte Lesart von Gerechtigkeit neu zu denken, die starre Definition aufzubrechen und sich die Frage zu stellen: Was ist Gerechtigkeit wirklich?
Ausstellungsansicht 1, Credits: Lombardi-Kargl, kunst-dokumentation.com
Credits: Lombardi-Kargl, Foto: kunst-dokumentation.com
Credits: Thomas Locher
Ausstellungsansicht 2, Credits: Lombardi-Kargl, Foto: kunst-dokumentation.com