(06.12.2024-11.05.2025 ) von Marie Rosa Schneider | februar 2025
Semiha Berksoy. Singing in Full Color, eine Retrospektive zum Werk der 2004 verstorbenen Malerin, Opernsängerin und Performerin Semiha Berksoy im Hamburger Bahnhof in Berlin bringt ihr künstlerisches Oeuvre umfassend zum Klingen. Gezeigt werden über 80 Werke, hauptsächlich Malereien und Zeichnungen, aber auch archivalisches Material, u. a. Tonaufnahmen ihrer professionellen Gesangskarriere.
1910 noch im Osmanischen Reich in Istanbul geboren, war Berksoy stark geprägt von der Transformation der frühen Republik Türkei. Die kulturelle Landschaft befand sich im Umbruch und ihr künstlerisches Leben kann als Sinnbild für den türkischen Modernisierungsprozess gelesen werden. Im Zuge dieses kulturellen Wandels erhielt sie ein staatliches Stipendium für das Studium von Oper und Gesang an der Berliner Hochschule für Musik. Sie ging als erste türkische Opernsängerin in die Kulturgeschichte ihres Landes ein. Weiters war sie die erste türkische Sängerin, die in einer europäischen Produktion auftrat.
Nach der Rückkehr in ihre Heimat vertiefte sie ihre gleichzeitige Liebe zur Malerei, wobei Fragen nach Identität, Selbstdarstellung, Rollenzuweisungen, Zeit und Existenz zu ihren zentralen Bildinhalten werden. Berksoys avantgardistischer Geist und die Frage nach künstlerischer Autonomie manifestieren sich in ihren zahlreichen (Selbst-)Porträts. Sie bricht mit den gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen und wagte es, ganz sie selbst zu sein, unbeeinflusst von formalen Strömungen der Zeit.
Dieser Eindruck wird durch die präzise kuratorische Präsentation ihrer Werke gut sichtbar und erlebbar gemacht, indem der Ausstellungsraum in der Gestaltung auf Semiha Berksoys Wirkungsraum, die Bühne, zurückgreift. Auf goldgelbgetauchten Wänden, die kulissenhaft von den Seiten in den Raum greifen, wird die dadurch erzeugte Theatralität zum Spiegelbild ihrer Werke. Zudem wird der Raum vom klangvollen Gesang Berksoys erfüllt. Sie überführt ihr Leben, die Musik sowie auch ihre Traumwelt, in die Malerei. Die Monumentalität der Bilder, die mehrfach ihren Opernrollen gewidmet sind, wird von Selbstportraits und intimen Portraits (ihrer früh verstorbenen Mutter, ihrer Tochter und kulturellen Akteur*innen) gebrochen. Bilder wie Freitod und Tod und Überleben zeigen ihre ständige Auseinandersetzung mit dem Gefühl von Trauer sowie dem Verhältnis von Leben und Tod. Durch Berksoys (Selbst-)Porträts zieht sich zumeist eine schwarze horizontale Linie über die Leinwand, die ihre Figuren durchschneidet . Sie kennzeichnet das Schicksal, die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits. Ihre Bilder verleihen ein Gefühl für das Verfließen der Zeit. Auf den Rückseiten der Wände sind unzählige Archivalien aus Berksoys Leben ausgestellt, sie enthüllen eine Frau, die sich fortlaufend damit auseinandersetzte, die Grenzen zwischen dem Innen und Außen zu verhandeln.
Durch ihre Malerei zieht sich das Fortdauern von Erinnerung, Schmerz, Sehnsucht, Liebe, Leidenschaft und Trauer als kontinuierliche Themen. Ihre aus eigenen Lebenserfahrungen und Imagination verbundene innere Welt emergiert durch die spontane und expressive Malweise. Die flüchtige, notizhafte Niederschrift und der zeichenhafte Ausdruck haben eine ganz unverfälschte, persönliche und unmittelbar überzeugende Wirkung, welche ihr sinnliches Erleben widerspiegelt. Sie bringt die kraftvolle Innenwelt zum Vorschein, die keine Grenzen kennt. In einem Interview mit Kurator Hans Ulrich Obrist erläutert Berksoy, dass Kunst aus dem Inneren entspringen müsse, es ginge ihr allein um das Gefühl.¹ Seine Figuration findet das Gefühl in einer Synthese universeller und persönlicher Mythen. Autobiografische Elemente und ihre Traumwelt gehen nahtlos in Mythisches über. Ihre Bilder fungieren als eine Art Zufluchtsort, spiegeln ihre inneren Kämpfe und Untiefen wider. In Kombination mit ihren kräftigen Farben erzeugt sie eine ausdrucksstarke Melancholie und verdeutlicht zugleich ihre Lebhaftigkeit und Leidenschaft.
Die Ausstellung reflektiert die Verflechtungen von Berksoys Leben und die tiefe Komplexität ihrer künstlerischen Identität, welche unmittelbar spürbar ist. Sie wird uns als Künstlerin präsentiert, die mit ihrem Werk Konventionelles überschreitet und versucht das Spannungsverhältnis von Kunst und Realität zu verhandeln.² Diese Aussage wird am Ende der Ausstellung noch einmal verdeutlicht. Es ist ein mit einem fotografischen Abbild Berksoys bedrucktes Gazegewebe aufgespannt, durch das sich erst bei näherer Betrachtung durch die Gaze flimmernde Aufnahmen aus ihrer Zeit in Berlin erkennen lassen. Ihre Karriere auf den europäischen Bühnen wird durch den Zweiten Weltkrieg abrupt beendet. Diese Installationsgestaltung unterstreicht das fragile Gefühl eines Traums, der unterbrochen wird.³ Ein Blick tiefer ins Innere Berksoys.
Semiha Berksoy war eine Pionierin ihrer Zeit und hinterließ ein umfassendes, vielseitiges künstlerisches Erbe. Ihre Arbeiten sind ein wichtiger Bestandteil des sozio- und kulturpolitischen Narrativs der modernen Türkei. Sie verkörperte als schöpferisches Individuum das Bild der modernen Frau und leistete einen bedeutenden Beitrag zur Transformation ihres Landes. Sie schuf eine eigene künstlerische Welt, in der sie zugleich Muse, Medium und Schöpferin war: „I’m a Gesamtkunstwerk⁴, a synthesis of all forms of art!“⁵ erklärt sie 2003 Hans Ulrich Obrist in einem Interview.
Eine Ausstellung über eine Künstlerin, die vor Lebenskraft und Leidenschaft sprüht und uns Betrachter:innen auf eine Reise in ihre innere Gefühlswelt, in ihr Leben mit all seinen Höhen und Tiefen, in all ihren Farben, mitnimmt und berührt.
¹ Hans Ulrich Obrist, Interview mit Semiha Berksoy, in: RES 3 (Mai 2009), S. 22-31.
² Vgl. Sam Bardaouil, Semiha Berksoy: eine Retrospektive im Hamburger Bahnhof, in: Dies./Till Fellrath (Hg.), Semiha Berksoy. Singing in Full Color. (Kat. Ausst., Hamburger Bahnhof, Berlin 2024), S. 16.
³ Ebd., S. 15
⁴Semiha Berksoy war stark beeinflusst von Richard Wagner, er entwarf in der Schrift »Das Kunstwerk der Zukunft« ein Zusammenspiel der Künste als Gesamtkunstwerk.
⁵ Hans Ulrich Obrist, Interview mit Semiha Berksoy, in: RES 3 (Mai 2009), S. 23.
Semiha Berksoy, Otoportre (Selbstporträt), 1972 + Duran Otopre (Stehend Selbstporträt) 1968, Credits: Marie Rosa Schneider
Semiha Berksoy, Singing in Full Color, Ausstellungsansicht 1, Hamburger Bahnhof, Credits: Marie Rosa Schneider
Semiha Berksoy, InAtihar (Freitod), 1997, Courtesy der Nachlass Semiha Berksoy und GALERIST
Semiha Berksoy, Singing in Full Color, Ausstellungsansicht 2, Hamburger Bahnhof, Credits: Marie Rosa Schneider