curated by Reilly Davidson
(09.09.2025-04.10.2025 ) von Elizaveta Dimitrijevic | September 2025
Wir leben in einer Welt aus Zahlen und Zeichen, denen wir Bedeutung und Symbolik verleihen. Sie bilden eine vertraute Sprache, mit der wir Realität erfassen. Doch was, wenn die zur Ordnung und Rationalisierung geschaffenen Methoden uns fesseln und uns etwas Wesentliches rauben?
Reilly Davidson, die Kuratorin der Ausstellung Durée, erforscht anhand der Werke von neun Künstler*innen zwei Arten des Zeiterlebens, ausgehend von der Theorie Henri Bergsons. Das Analytische dient Bergson zufolge als Instrument zur Gliederung der Zeit und hält das menschliche Bewusstsein in Systemen standardisierter Zahlen und Bilder gefangen, wodurch die Wahrnehmung auf ein automatisiertes Niveau reduziert wird. Das Intuitive hingegen bezeichnet laut Bergson das bewusstere und tiefere Eintauchen in den Fluss der Zeit, die als unmittelbare Erfahrung erfasst wird. Davidson möchte den Besucher* innen in der Ausstellung den Wechsel zwischen diesen beiden Zuständen ermöglichen, um deren unterschiedliche Wesen zu erkennen. Wenn Bergsons philosophische Konzepte in künstlerische Sprache übersetzt werden, entsteht im Kontext der Ausstellung eine Doppelparallele: dem Analytischen entsprechen semiotische Ansätze, dem Intuitiven formalistische. Der semiotische Anteil der Werke offenbart unsere Bindung an Zeichensysteme: Die in Werken enthaltenen Zeichen stoßen ins Bedeutungsleere und damit auf die Brüchigkeit des analytischen Zugriffs. Durch direkte formalistische Interaktion mit dem Medium rückt zugleich ein unmittelbares Begreifen der Zeit in den Vordergrund. Dabei löst sich das analytische Vorgehen zunehmend auf und öffnet den Weg für eine intuitive Wahrnehmung.
Im ersten Raum sind Arbeiten zu sehen, die an Denksportaufgaben erinnern, welche das Gehirn unwillkürlich zu lösen versucht. In Squished Malevich (2025) von Olivia van Kuiken erscheint das rote Quadrat Malevichs im semiotischen Sinn als ursprüngliches ‚Zeichen‘. Die Künstlerin entzieht diesem Bild seine symbolische Aufladung, indem sie es formal zerlegt und daraus neue Formen entwickelt. Die Werke des Raums befinden sich in einer dynamischen Wandlung und entziehen sich dem Stillstand festgehaltener Realität, was die Besucher*innen zur Erfahrung von Dauers, Durée, einlädt.
Die folgenden Räume tauchen immer tiefer in das Spiel zwischen den beiden Zeiterlebnissen ein und laden dazu ein, über das mechanische Wahrnehmen hinauszugehen. Nora Kapfer schafft in Untitled (2025) eine Wechselwirkung zwischen Blumen und Leinwand, indem sie über die gesamte Fläche Muster einritzt. Blumen und abstrakte Formen gehen ineinander über und kontrastieren zugleich. Hier werden nicht nur die Formen, sondern auch die Zeichen rein und direkt wahrnehmbar. Die Arbeit Mir geht’s Danke gut (2025) von Tatjana Danneberg enthält zwar Fotografien, doch fehlt ihnen der mit dem Medium oft assoziierte Charakter der Momentaufnahme. Die übereinandergelegten Bilder lösen sich im Raum auf und verschmelzen mit ihm zu einer Einheit, wodurch eine fließende Dauer evoziert wird – der unmittelbaren, qualitativen Erfahrung von Zeit nach Bergson. In diesem kontinuierlichen Zeitfluss verlieren die Isolation und das Festhalten einzelner Abschnitte ihre Bedeutung und die Wahrnehmung wird unteilbar und dynamisch.
Der letzte Raum ermöglicht es, die Zeit so unmittelbar wie möglich zu erleben. Zwei Arbeiten treten hier in einen Dialog. An der Wand hängt die fotografische Abstraktion von Tatjana Danneberg Weekends and Beginnings (2025): Der schwarze Fluss, einheitlich und kontinuierlich, wird durch die hellen Bereiche unterbrochen, als fiele Licht hinein. Dieser Lichtbereich kann als Eingriff des analytischen Wahrnehmens in das Intuitive verstanden werden: Es ist ein Bürgersteig zu erkennen - ein vertrautes Bild, das jedoch vom vollständigen Eintauchen in Zeit und Raum ablenkt. Daneben befindet sich Mira Manns Skulptur Promise (2025): ein erschreckender Kopf, dessen Augen durch Autoscheinwerfer ersetzt sind. Er wirkt wie eine Fortsetzung der Leinwand: Die Scheinwerfer beleuchten den ‘ Bürgersteig’ und lassen die Arbeit im Raum weiter entstehen. Die Figur selbst ist nahezu auf ihr Gerüst reduziert, wodurch das Erkennen ihres ursprünglichen Aussehens erschwert wird. Einen Hinweis bietet lediglich der Drachenkopf am Eingang der Ausstellung.
Der Kopf am Eingang verweist deutlich auf den chinesischen Drachen — ein farbenfrohes Symbol für Leben und Schutz vor bösen Geistern. Er markiert metaphorisch den Eintritt in den Raum und gleichzeitig dessen Schutz. So verbinden sich Anfang und Ende der Ausstellung zu einem prozessualen Ganzen. Die Räume der Ausstellung, die sich in einem langen und schmalen Korridor vereinigen, regen die Besucher*innen zum aktiven Vergleichen und führen sie unweigerlich vom rationalen, „geteilten“ zu kontinuierlichen, ganzheitlichen Wahrnehmen. Der Kuratorin gelingt es, Bergsons Theorie durch die Kunst erfahrbar zu machen und uns so an ein intuitives Erfahren der Werke heranzuführen.
Mira Mann, Promise, 2025, two ford car fog lights, wire, lion head, 80 × 80 × 64 cm, Image by: Manuel Carreon Lopez (Kunst Dokumentation)