(09.10.2024-19.11.2024 ) von Franziska Wasserberg | januar 2025
Wolkenaugen und ein Netz aus Blicken
Sich kreuzende Blicke aus glitzernden Augen. Ein Farbenmeer aus textilen Fragmenten inmitten weißer Galeriewände. Was überzieht die ornamentierten Flächengebilde wie Raureif an einem kalten Wintermorgen? Glassplitter, Salz, Zucker? Auf der Suche nach einer Antwort gleitet mein Blick über die Teppich-Augen vor mir, sanft und neugierig zugleich. Auge um Auge – ich schaue, vertiefe mich, bis sich mein tastender Blick im kristallinen Meer der Oberfläche verliert.
Die Ausstellung To See Clearly der Wiener Künstlerin Noushin Redjaian im Bildraum 01 wird vom Zusammenspiel aus Materialität, Symbolik und Rauminszenierung bestimmt. Mit ihrer raumgreifenden Installation schafft Redjaian einen Ort, der zum Innehalten einlädt und zugleich mit Gefühlen von Irritation und Beobachtetwerden konfrontiert. Die vielfältigen Darstellungen von evil-eyes und clear-eyes öffnen ein Spektrum von schützenden bis bedrohlichen Blicken. Doch geht es nur ums Sehen?
Eine Wand ist bedeckt von „Wolkenaugen“ aus Metallrahmen, bespannt mit kristallbesetzten Teppichfragmenten. Die Künstlerin selbst bezeichnet sie als Salty-Eyes. Ich finde mich wieder im schimmernden Kontrast zwischen den farbigen Textilien, den Kristallen und den sterilen Galeriewänden. Die Augenformation an der Wand spiegelt sich auf dem Boden in Form von Floor-Eyes, wodurch ein dichtes Netz aus Blicken entsteht, das Besucher*innen zwingt, darüber zu steigen oder auszuweichen. Diese Aufforderung zur Bewegung wird durch die Kristalle aus Kaliumaluminiumsulfat verstärkt: Sie fangen das Licht ein und glitzern je nach Blickwinkel. Man möchte um die Augen schreiten, sie aus verschiedenen Perspektiven erfassen, ihre stoffliche und geometrische Wirkung erspüren. Die kleine Raumgröße verstärkt dieses Gefühl der Geschlossenheit und Aktivierung.
Die Gegenüberstellung von kaltem Metall und den weichen, fransigen Teppichen intensiviert die Spannung der Installation. Die Dichotomie aus scheinbaren Gegensätzen – Boden und Wand, Sehen und Gesehenwerden – durchzieht die gesamte Ausstellung. Die Floor-Eyes blicken zu mir herauf, während ich auf sie herabsehe, beobachtet von den wachsamen Augen an der Wand. Die zahlreichen Blicke lassen die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt verschwimmen und verwischen mein eigenes Empfinden von Beobachten und Beobachtetwerden.
Das Spiel mit Gegensätzen setzt sich im Zentrum der Ausstellung fort, mit zwei lebensgroßen weiblichen Figuren: Desire/Sitzend und Extasia/Liegend – ein weiteres ungleiches Paar. Ihre stehenden Betrachter*innen konfrontieren sie mit einer befremdlichen Leere: Keine Augen im Gesicht, stattdessen halten sie jeweils eines in der Hand – eines trüb und glitzernd, das andere klar. Ihre Körper sind mit bunten Stoffresten bedeckt, kraus und faserig – Reste vom Zuschneiden der übrigen Stücke. Desire sitzt mit gesenktem Kopf auf einem metallischen Kubus, Extasia liegt mit ausgestreckten Armen auf dem Boden.
Ich frage mich: Was sieht man, wenn einem die Augen in den Händen liegen? „Die Augen sind der Spiegel der Seele“, sagt man. Vielleicht geht es weniger um das äußere Sehen als um ein inneres – um meditative, introspektive Versenkung. Die Verschiebung der Augen, vom Gesicht in die Hände, ruft Gedanken über die Dualität von Körper und Geist in mir hervor, über den Schutz vor und das Ausgesetztsein durch Blicke.
Vor meinem inneren Auge entfaltet sich ein vielschichtiges Spiel mit dieser Symbolik und den menschlichen Sehwerkzeugen: Händen und Augen. Wer sich der eigenen Außenwahrnehmung beraubt, wer den Blick in die Hand nimmt, wird gleichzeitig geschützt und verwundbar. Die Augen, als Fenster zur Seele, tragen die Möglichkeit der Introspektion, entziehen sich aber zugleich der unmittelbaren Konfrontation mit der Außenwelt. In dieser Verschiebung spiegelt sich nicht nur eine Reise nach innen, sondern auch eine Auseinandersetzung mit der Kraft des Blickes – sowohl des eigenen als auch der der anderen. Es ist, als ob die Figuren sich dem ständigen, oft unerbittlichen Blick der Welt entziehen und gleichzeitig zur Schau gestellt werden, als ob sie uns einladen, auf einer anderen, tieferen Ebene zu sehen.
Bekleidet mit Fragmenten eines historischen Seidenteppichs, den die Künstlerin bereits zerschnitten auf willhaben erworben hat, verbinden Extasia und Desire Optik und Haptik mit kultureller Symbolik. Die Textilien in Redjaians Arbeiten sind mehr als ästhetische Blickfänger – sie tragen tiefere Bedeutungen, die das geschulte Auge zu entschlüsseln vermag. Anhand der Materialien, Knüpf- und Webtechnik sowie Musterungen spürt Redjaian den Ursprüngen der von ihr verwendeten Teppiche nach. Manche stammen aus Aserbaidschan, Turkmenistan oder Indien, andere aus iranischen Dörfern, die heute nicht mehr existieren. Auch ohne Expert*innenwissen führt mir das genaue Schauen die kulturhistorische Dimension der textilen Arbeiten vor Augen: Jede Textilie erzählt eine Geschichte – sei es durch die Höhe des Flors, die Troddeln oder Fransen an den Schnittkanten.
Ein Moment der Überschreibung zieht sich durch Redjaians Arbeiten: die Neukontextualisierung der Teppiche innerhalb der Ausstellung, das Überwuchern durch Kristalle, das Bedecken der Figuren mit historischen Fragmenten. In Redjaians Arbeiten scheint das Potenzial zu liegen, die Tradition von Textilkünstlerinnen wie Rosemarie Trockel weiterzuführen. Als handgefertigte Artefakte aus patriarchalen Gesellschaften stehen die Teppiche traditionell für ästhetischen Reichtum und zugleich für die verborgenen Stimmen von Frauen. Durch ihre Muster und Techniken transportierten diese Textilien im Stillen Botschaften über Generationen hinweg. Redjaian spielt bewusst mit den kulturellen und historischen Konnotationen des Materials, um neue Bedeutungsebenen zu eröffnen. Ihre Wahl weiblicher Protagonistinnen betont diesen Ansatz.
Mit To See Clearly schafft Redjaian einen dialogischen Raum, in dem Materialität, Geschichte und Symbolik ineinanderfließen. Diese Vielschichtigkeit lässt den Raum als dynamisches Gesamtkunstwerk erscheinen, das die Betrachter*innen nicht nur physisch dazu einlädt, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Die Omnipräsenz der Augen schärft meine Sinne: Im Netz aus Blicken versucht mein tastender Blick, die Werke begreifbar zu machen. Mit meinen Augen erspüre ich ihre Taktilität und das, was sich darunter verbirgt. Als ich die Galerie verlasse, blicke ich ein letztes Mal durch das Schaufenster in die Wolkenaugen – oder schauen sie auf mich? – bevor sich mein Fokus nach innen richtet, um Klarheit aus dem Gesehenen zu gewinnen.
Ausstellungsansicht 1, Foto: Franziska Wasserberg
Ausstellungsansicht 2, Foto: Franziska Wasserberg
Ausstellungsansicht 3, Foto: Franziska Wasserberg
Ausstellungsansicht 4, Foto: Franziska Wasserberg