Stefan Zsaitsits: Murmuring Lines
(8.11.2024-21.12.2024) von Amelie Eichhöfer | märz 2025
Die Zeichnungen von Stefan Zsaitsits: Zwischen Präzision und Auflösung
Flüsternde, murmelnde Linien eröffnen eine stille Welt voller Andeutungen und laden dazu ein, in die Geschichten einzutauchen, die sie skizzieren. Warum fehlt dem Körper der Kopf? Weshalb sind dem Jungen die Augen genommen? Stürzt die Figur aus dem Fenster? Oder springt sie? Jede Linie scheint eine indirekte Frage aufzuwerfen, ohne eine eindeutige Antwort zu geben, und lässt so Raum für die eigene Interpretation.
Die Ausstellung Murmuring Lines in der Münchner Stephan Stumpf Galerie wirkt auf den ersten Blick durch die großen Glasfenster beim Vorübergehen wenig einladend. Dunkelgraue Wände, spärliche Beleuchtung und gerahmte Bleistiftzeichnungen bestimmen den Raum und lassen zunächst eine Unsicherheit aufkommen, ob die Galerie überhaupt geöffnet ist. Von Weitem wirken die Zeichnungen zurückhaltend, nahezu unscheinbar, und die dichte Erzählkraft, die in ihnen steckt, bleibt vorerst verborgen. Erst wenn man die Galerie betritt und sich vor eine der Arbeiten von Stefan Zsaitsits stellt, offenbart sich die Vielschichtigkeit der Werke – sowohl im Material als auch in den Geschichten, die sie in leisen, subtilen Tönen erzählen.
Sobald man die ersten Schritte in die Galerie setzt, spürt man eine stille, düstere Atmosphäre, die den Raum mit einer greifbaren Spannung füllt. Der erste Blick fällt unweigerlich auf das Titelbild der Ausstellung: Sieben Zwetschken (2024). Eine vergrößerte Hand balanciert sieben Zwetschken auf den grotesk verkrümmten Fingern. Die haptische Darstellung der Haut im Kontrast zu der feinen Struktur der Früchte wirkt zugleich nahbar und fremd, wie eine Momentaufnahme aus einem surrealen Traum. Zsaitsits verwendet die Linie als präzises Werkzeug, um physische Präsenz und emotionale Spannung zugleich hervorzurufen. Jede Linie, jede Schattierung scheint ein Geheimnis zu bergen und wartet darauf, entdeckt zu werden. Seine schwarz-weißen Welten ziehen die Betrachtenden nicht durch grelle Dynamik in ihren Bann, sondern durch eine leise, aber beharrliche Kraft. Das Gefühl der Unscheinbarkeit und die Unsicherheiten, die sich in den ersten Momenten in der Galerie breitmachen, verblassen, sobald man versteht, dass diese Werke mehr als nur einen flüchtigen Blick verlangen. Sie fordern Reflexion, wie Spiegel, die uns auf subtile Weise mit unseren eigenen Gedanken konfrontieren.
Durch die Reduktion auf Bleistift und weißes Papier gelingt es Zsaitsits, die menschliche Natur auf eine surreal-poetische Weise zu erkunden. Seine Werke, die in Institutionen wie der Albertina Wien ausgestellt sind, bewahren dennoch eine unmittelbare, persönliche Tiefe, so dass es ihnen gelingt, trotz institutioneller Anerkennung eine intime Verbindung zu Rezipierenden herzustellen. Der Künstler offeriert das Potenzial, durch seine Werke nicht bloß zu schauen, sondern Teil seiner Gedankenwelt zu werden und sich in deren Konditionen zu vertiefen.
Sobald man sich in der Galerie weiterbewegt, wird man von einem Bild angezogen, das eine menschliche Figur von hinten zeigt, deren Blick auf ein Flugzeugfenster gerichtet ist, in dem sich eine Wolkendecke spiegelt. Die Haltung der Figur wirkt knabenhaft, eine resignierte, melancholische Geste erinnert an Gefühle von Entfremdung und Einsamkeit. Die Linienführung ist so fein und eindringlich, dass man förmlich spürt, wie Zsaitsits sein Handwerk in Wien bis zur Perfektion geschärft hat. Wofür steht das kleine Flugzeugfenster? Ein Fenster zur Welt? Ein Spiegel? Oder zeigt es die Möglichkeit der Isolation, die eintritt, sobald die Figur die kleine Fensterjalousie herunterzieht und im Dunkeln zurückbleibt? Die Einfachheit der Szene wirkt als Modus moderner Einsamkeit; universell und tief persönlich zugleich.
Direkt daneben hängt Schall und Rauch (Sanddornliebe), eine Zeichnung, die spürbar aufgeladener erscheint. Eine augenlose Gestalt hält einen brennenden Ast in der Hand, während ihr Kopf mit der Dunkelheit des Hintergrunds verschmilzt. Überdimensionierte Ohren ragen hervor, die grotesk vergrößerte Nase ersetzt zugleich den Mund der Figur. Kopf und Körper gehen nahtlos ineinander über, ein Hals ist nicht vorhanden, und an der Stelle des Herzens sitzt ein Stein. Trotz der Verformungen gelingt es der Figur, die Betrachtenden frontal anzusehen. Augenlos, aber durchdringend. Ihr Blick wirkt zugleich fragend und herausfordernd, beinahe so, als würde er einen durchbohren.
Besonders bemerkenswert ist, dass der Künstler dem Papier selbst eine zentrale Rolle zuschreibt. Einige Werke, wie beispielsweise Vertigo (2024), bestehen aus zahlreichen kleinen Papierstücken, die zu einem großen Ganzen zusammengesetzt wurden. Diese Struktur verleiht den Bildern etwas Puzzleartiges, als müssten die einzelnen Teile erst zusammengesucht und verbunden werden, um das vollständige Werk zu begreifen. Dabei sind die Kanten der Papierstücke unregelmäßig, die Formen asymmetrisch, was den Bildern zusätzliche Dynamik und Spannung verleiht. Nicht nur im Papier, sondern auch in der Stilistik der Zeichnungen zeigen sich in der Ausstellung große Unterschiede. Sieben Zwetschken zeichnet sich durch eine detailgetreue und einheitliche Gestaltung aus, wohingegen Vertigo verschiedene Stilrichtungen vereint. Eine fein gezeichnete Figur scheint kopfüber aus einem Fenster zu fallen, umgeben von chaotischen Nebenzeichnungen, die an Kinderkritzeleien erinnern. Im Hintergrund sind Häuser, eine Schnecke und Blumen zu sehen, während sich am oberen Bildrand die Schuhe der Figur in Nebel oder Rauch auflösen.
Die „murmuring lines“, die der Künstler setzt, flüstern leise Geschichten, die unheimliche Intimität zwischen Werk und Rezipierenden schaffen. Jede Schraffur und jeder Strich scheint einen Gedanken einzufangen, als ob die Bleistiftlinien miteinander kommunizieren würden und sich zu einer vielschichtigen Geschichte zusammenfügen. Trotz der narrativen Dichte und der Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten, die diese Werke eröffnen, macht sich beim Verlassen der Galerie eine unerwartete Erleichterung breit; sobald man den düsteren, beinahe beklemmenden Themen nicht mehr gegenübersteht. Die neugewonnenen Eindrücke bleiben teilweise in den dunklen Räumlichkeiten zurück und lassen eine tiefe Einschreibung ins Bewusstsein nicht zu. Mit dem Schließen der Galerietür verblasst allmählich auch die anfängliche Faszination. Ein Eindruck, der sich nicht in den Gedanken einbrennt, sondern sich leicht abstreifen lässt wie ein flüchtiger Schatten.
Vertigo, 2024, Graphit auf Papier, 90 x 60 cm, Bildcredits-/rechte: Stefan Zsaitsits
Sieben Zwetschken, 2024, Graphit auf Papier, 40 x 30 cm, Bildcredits-/rechte: Stefan Zsaitsits
Luftlinie, 2024, Graphit auf Papier, 60 x 40 cm, Bildcredits-/rechte: Stefan Zsaitsits
Schall und Rauch (Sanddornliebe) 2023, Graphit auf Papier, 50 x 35 cm, Bildcredits-/rechte: Stefan Zsaitsits